Buchtipps 2020 Herbst/Winter Erwachsene - Belletristik
Buchtipps 2020 Herbst/Winter Erwachsene - Belletristik
Sieben Richtige
Volker Jarck
So viel mehr als Zufall
Ein Buch, das ich von Herzen empfehlen kann. Sieben Richtige, sozusagen ein Sechser mit Zusatzzahl. Sehr unterhaltsam und leicht melancholisch wird von Eva, Victor, Marie, Nick, Kathy, Roland, Greta und vielen anderen erzählt. Sie alle sind miteinander verbunden, meist ohne es zu wissen. Sie sind Nachbarn, Kollegen, Freunde, Partner und Ex-Partner, Lehrer und Schüler. Das Buch endet im Jahr 2044 mit den Zeilen: „Dies ist die Geschichte von Charlie Faber. Und sie beginnt an dem Tag, den Charlies Mutter überlebt. Das war ein Mittwoch unserer Zeit.“ An diesem Mittwochabend im Jahr 2018 hat Greta Ziemer in Bochum einen Unfall, Victor Faber bekommt in Boston eine sehr traurige E-Mail und Eva Winter wartet in Köln vergeblich auf ihren Umzugswagen. Zur gleichen Zeit geht in Rom eine Beziehung mit zu viel Gin Tonic zu Ende. Es ist ein Buch über Lebenswege, die sich kreuzen, mit Protagonisten, die man ins Herz schließt und die man durch die Höhen und Tiefen ihres Lebens begleiten darf.
Jeannine Beihofer
Alt sind nur die anderen
Lily Brett
Lily Brett lässt uns ganz schön alt aussehen!
Ein wunderbares Büchlein, eine Sammlung von Kolumnen über das Älterwerden bzw. über das Ältersein! Schonungslos und selbstironisch und ohne Bitterkeit schöpft die australisch-amerikanische Schriftstellerin Lily Brett, geboren 1946, aus den Alltagserfahrungen und -begebenheiten einer Frau, die das siebte Lebensjahrzehnt überschritten hat. Neben einem kurzsichtigen und schwarzhumorigen Blick auf ihr Sein zwischen schwächelndem Bindegewebe und Seniorenspeeddating sind diese Kolumnen eine Liebeserklärung Lily Bretts an ihre zweite Heimat New York.
Rainer Brandl
Apeirogon
Colum McCann
Frieden gibt es nur, wenn auf Rache verzichtet wird
Ein Apeirogon ist eine geometrische Figur mit einer zählbar unendlichen Menge an Seiten. Die Geschichte, die McCann in seinem neuen Roman erzählt, hat auch unendlich viele Betrachtungsmöglichkeiten und Ursachen. Es ist die Geschichte der beiden Freunde Rami, einem israelischen Juden aus Jerusalem, und Bassam, einem Palästinenser und Muslim aus Jericho. Beider Töchter kamen gewaltsam ums Leben. Smadar bei einem Selbstmordanschlag, Abir wurde von einem israelischen Soldaten getötet. Kennengelernt haben sie sich in einer Friedensgruppe für Hinterbliebene. Kaleidoskopartig beschreibt McCann die Lebensgeschichte der Beiden, eingebettet in die Geschichte des seit mehr als sieben Jahrzehnten andauernden Nahostkonflikts. Getroffen hat er Rami und Bassam auf einer privaten Reise nach Israel. Er nennt seinen Roman im Vorwort einen „Hybridroman“, eine Mischung aus Realität und Imagination. Zugegeben, die 600 Seiten lange Geschichte mit ihren vielen politischen Details erfordert einiges an „Lesesitzfleisch“ und ist nicht geeignet zum Spätabends-im-Bett-Lesen, aber für bzw. an verregneten Herbsttagen ist der kunstvoll erzählte Roman eine große Bereicherung.
Margret Thorwart
Der Halbbart
Charles Lewinsky
Von einem, der das Blaue vom Himmel erzählt
„Wenn man ins Erzählen kommt, fällt einem immer noch mehr ein, dagegen kann man nichts machen“, sagt Sebi, der 13j-ährige Ich-Erzähler in Lewinskys neuem Roman. Die vielen Geschichten, die er zu erzählen weiß, fügen sich zusammen zu einer großen sehr vergnüglichen und kurzweiligen Erzählung. Die allerdings in einer weniger vergnüglichen Zeit spielt. Es ist der Beginn des 14. Jahrhunderts. Ort der Handlung ist ein kleines Dorf in der Talschaft Schwyz nicht weit entfernt vom berühmten Benediktinerkloster Einsiedel, das unter dem Schutz der Habsburger steht. Wie es damals so üblich war, herrschen Kirche und Adel gnadenlos über das einfache Volk. Wie die Obrigkeit, hier der „Klosteradel“, Gottesfürchtigkeit, Aberglaube und Unwissenheit zur Machterhaltung nützt, wird aus der Sicht Sebis erzählt. Eines Tages kommt ein geheimnisvoller Fremder ins Dorf, der Halbbart. Durch die Freundschaft mit ihm lernt Sebi eine ganz neue Welt und Weltanschauung kennen. Sebis Geschichtenreigen von Himmel und Hölle aus einer fernen Zeit ist humorvoll, spannend, nicht immer schön und nicht immer wahr, aber es ist ja auch ein Buch über die Kunst Geschichten zu erzählen.
Margret Thorwart
Die Erfindung des Countdowns
Daniel Mellem
Schuld und Moral in Zeiten der Finsternis
Mit seinem Debütroman hat der promovierten Physiker, laut Saša Stanišić, eine Rakete gezündet. Das Wortspiel bietet sich natürlich an, nichtsdestominder ist Daniel Mellem ein reifer, nachdenklicher, komplexer und unterhaltsamer Roman gelungen. Als Blaupause für seinen Roman diente dem Autor das Leben des aus Siebenbürgen stammenden Physikers und Pioniers der Raketentechnik und Astronautik Hermann Oberth (1894-1989). Aus einer anfänglich kindlichen Leidenschaft für Astronomie und dem Wunsch, mit einer Rakete auf den Mond fliegen zu wollen, werden aus Faszination und Passion über zwei Weltkriege hinweg Obsession und Besessenheit. Dabei zieht es den jungen Oberth immer wieder von Siebenbürgen ins Deutsche Reich und nach dem Ersten Weltkrieg nach Göttingen, wo er Physik studierend seinem Traum der Entwicklung einer Mondrakete näher zu kommen glaubt. Blind vor Enthusiasmus und frei von moralischen Bedenken landet er schließlich bei Wernher von Braun, einem Mitglied der SS, um mehr oder minder bewusst an der Entwicklung der V2, der Vergeltungswaffe der Nazis, mitzuarbeiten. Ein großartiger Roman über Wissenschaft und Technik, über Moral, Schuld und Verantwortung im Umfeld nationaler und politischer Interessen und Verwerfungen.
Rainer Brandl
Die Schule am Meer
Sandra Lüpkes
Ein Roman über Wagemut und Scheitern, Leidenschaft und Missgunst, Freundschaft und Verrat
Deutschland 1925: Anni Reiner, eigentlich gut situierte Industriellentochter, folgt ihrem Mann Paul Reiner ans „Ende der Welt“, um dort mit sechs weiteren hoch engagierten PädagogInnen die „Schule am Meer“ zu gründen. Diese Schule auf Juist gab es wirklich, hier wurden Mädchen und Jungen gemeinsam und ohne Züchtigungen unterrichtet, sie wurden gefördert und ernst genommen, Theater, Musik, aber auch „Leibliche Ertüchtigung“ wurden großgeschrieben und die SchülerInnen als ganze Menschen gebildet. Zu den realen Personen der Lehrer stellt Sandra Lüpkes die SchülerInnen (die sich an den dort lebenden SchülerInnen orientieren) und Einwohner von Juist, um die Geschichte der Schule von 1925 bis zum Jahr 1934 lebendig werden zu lassen.
Ich habe den Roman regelrecht verschlungen - die besondere Atmosphäre des pädagogischen Freigeistes, des Ringens der PädagogInnen um ihren Traum, die Schicksale der SchülerInnen, die Einzigartigkeit der Nordseeinsel und natürlich der besonderen politischen Zeiten - haben mich gepacktt und erst nach 576 Seiten wieder entlassen.
Birgit Rupp
Die Tanzenden
Victoria Mas
Eine Hymne auf die Courage aller Frauen
Paris um 1885. In dieser Zeit müssen Frauen genau wissen, wie sie sich gemäß der gesellschaftlichen Normen zu verhalten haben. Unkonventionelles weibliches Verhalten wird nicht toleriert. Und wer sich nicht anpassen kann oder will, wird als untragbare Ehefrau, Tochter oder schlicht Hysterikerin in der Salpêtrière „entsorgt“. Hinter dicken Mauern weggesperrt und ohne reelle Chance, von dort wieder zu entkommen. Das Hôpital de la Salpêtrière war eine der bekanntesten Psychiatrien des 19. Jahrhunderts. Hier wurden weibliche Patientinnen ausschließlich von männlichen Ärzten behandelt. Victoria Mas stellt drei Frauen exemplarisch für die vielen namenlosen Patientinnen in den Vordergrund ihres Romans. Da ist Louise, erst 16 Jahre alt und seit drei Jahren Patientin in der Klinik. Sie hofft, der neue „Star“ der öffentlichen Vorlesungen von Professor Charcot zu werden. Ganz anders Eugénie, Tochter aus gutem Hause, gebildet und eigenwillig, die sich ihr Leben selbstbestimmt und unkonventionell erträumt. Und da ist Madame Geneviève, die Oberaufseherin in der Salpêtrière, die sich im Lauf ihrer 20 Dienstjahre inzwischen distanziert, aber zuverlässig um die Patientinnen kümmert und für diese Frauen im Klinikalltag zum Halt geworden ist. Die Wege der drei Frauen kreuzen sich und ihre Geschichten zeigen, wie viel Gewalt den Frauen widerfuhr, wie wenig sie ihr Leben bestimmen konnten und wie sehr sie den Männern ausgeliefert waren, die über ihr Schicksal bestimmten. Das ist zum einen ja noch gar nicht so lange her und zum anderen für viele Frauen auch heute eine Realität, in der sie leben. Mich haben der Roman, seine klare Sprache und die Frauenfiguren ausnahmslos in den Bann gezogen, sodass ich das Buch in zwei Tagen gelesen habe.
Birgit Rupp
Funkenmord - Kluftingers neuer Fall
Volker Klüpfel & Michael Kobr
Cold Case im Allgäu
Schon über 15 Jahre und inzwischen 11 Bände dauert die Erfolgsgeschichte von Kommissar Kluftinger an. Im neuen Band nimmt sich der Polizist – neuerdings kommissarischer Leiter des Präsidiums und als solcher auch noch mit Zusatzaufgaben beschäftigt – eines alten Falls an, bei dessen Aufklärung vor Jahren ein Unschuldiger verurteilt wurde. Kluftinger hat aber nicht nur damit zu kämpfen, dass ihn anfangs nur die neue Mitarbeiterin unterstützt. Bei seinem vorigen Fall wurde er angegriffen und ein langjähriger Kollege wurde getötet, was wie ein Schatten auf der ganzen Abteilung liegt. Zudem ist seine Frau Erika gesundheitlich angeschlagen, sodass sich „Klufti“ auch noch um Haus und Küche kümmern muss. Doch Kluftinger wäre nicht Kluftinger, würde er sich durch diese Widrigkeiten von seinen eigenwilligen Ermittlungsmethoden abbringen lassen.
Sabine Schmidt-Bischoff
Hamster im hinteren Stromgebiet
Joachim Meyerhoff
Zeit ist Hirn
In seinem neuen autobiografischen Roman aus der Reihe „Alle Toten fliegen hoch“ schreibt Joachim Meyerhoff über seinen erlittenen Schlaganfall. Und er versteht es hierbei wieder hervorragend, Komik und Ernsthaftigkeit auszubalancieren. Durch dieses einschneidende Erlebnis wird er aus seinem bisherigen temporeichen Leben gerissen. Nachdem er glücklicherweise zügig ins Krankenhaus eingeliefert wird, nimmt er sich bald vor, gegen den Schlaganfall „anzuschreiben“. Und zwar mit gedanklichen Reisen zu besonderen Ereignissen seines bisherigen Lebens und einer meist humorvollen Bestandsaufnahme seiner körperlichen und geistigen Funktionen nach dem Anfall, ohne dabei ins Lächerliche abzudriften. Diese Mischung aus Geschichten und Selbstreflexionen trägt dazu bei, dieses schwere Thema sehr nahbar erscheinen zu lassen. Das Ende ist meiner Meinung nach viel zu schnell erreicht.
Patricia Mock
Haus der Namen
Colm Tóibín
Griechischer Mythos spannend neu erzählt
Iphigenie wird von ihrem Vater Agamemnon geopfert, um die Götter am Vorabend des Trojanischen Krieges gnädig zu stimmen. Diese brutale Tat setzt weitere grausame Ereignisse in Gang, über die wir jeweils aus der Sicht von Iphigenies Mutter Klytämnestra und ihren Geschwistern Elektra und Orest lesen. Eigentlich kennt man die griechische Sage ja irgendwie, hat sie aber so ganz genau nicht mehr parat – zumindest ging es mir so. Tóibín erzählt diesen Stoff um menschliche Untiefen und um eine Familie, die man heute dysfunktional nennen würde, sprachlich so elegant und klar, dass man den Figuren der Antike ganz nahe kommt.
Elisabeth Nagel
Herzfaden
Thomas Hettche
Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste
Unvergessen aus meiner Kindheit ist mir der Tag, an dem Kater Mikesch den Rahmtopf der Großmutter auf der Kellertreppe zerschlägt und deswegen zum Geldverdienen in die weite Welt ziehen muss. Für mich und sicher für viele andere Kinder meiner Zeit war die wöchentliche Ausstrahlung der Augsburger Puppenkiste ein großes Ereignis. Deshalb und weil Thomas Hettche meistens gute Bücher schreibt, hat mich die Geschichte der Familie Oehmichen interessiert. Sie beginnt in der Jetztzeit. Ein zwölfjähriges Mädchen verlässt empört über eine Holztür eine Aufführung der Puppenkiste (sie findet sich zu alt für sowas). Das namenlose Mädchen landet auf einem geheimnisvollen Dachboden mit lebensgroßen Marionetten und einer Menschenfrau, Hatü. Was sie nicht weiß, ist, dass sie selbst auf Puppengröße geschrumpft ist. Hatü, eigentlich Hannelore Oehmichen ist die Tochter von Walter Oehmichen, dem Begründer des Puppentheaters. Diese Rahmenhandlung ist in roter Schrift. Die eigentliche Geschichte in der Geschichte, nämlich die der Familie Oehmichen und der Entstehung der Puppenkiste 1939 in blauer Schrift. Eine Hommage an Michael Ende, Erfinder von Jim Knopf, der am Ende des Buches eine Rolle spielt. Ein Roman über die Magie des (Puppen)Theaters in einer finsteren Zeit. Beschrieben aus der Sicht von Hannelore Marshall-Oehmichen, die einen Großteil der Figuren geschnitzt hat. Mit „Herzfaden“ können wir einen magischen Blick zurück in die eigene Kindheit werfen, werden aber auch damit konfrontiert, wie prägend es für Kinder ist, im Faschismus groß zu werden.
Margret Thorwart
Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Jean-Paul Dubois
Eine Meistererzählung
Mit breiter Zustimmung gewann Jean-Paul Dubois 2019 mit „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ den begehrten Prix Goncourt. Der Roman, durchzogen von Aufbruch und Neuanfang, von Scheitern und Niedergang, von Hoffnung und Verlust, ist eine Comédie humaine in ihrer besten Form. Wie kann es geschehen, dass ein farbloser Pastorensohn, Hausmeister und Menschenfreund in einer Zelle mit einem etwas schrägen Hells Angels landet, ist die Frage aller Fragen, die sich der Protagonist hinter Gittern reflektierend zu beantworten versucht. Neben dem privaten Scheitern seines Protagonisten zeichnet Dubois ein düsteres Epochenbild, das mit den Aufbrüchen und politischen Hoffnungen der Sechziger Jahre beginnt und im Anbruch eines neuen kalten Millenniums endet. Ein feiner und souverän geschriebener Roman.
Rainer Brandl
Kalmann
Joachim B.Schmidt
Teils Krimi, teils Roman und Spannung pur
Die Handlung spielt auf der Halbinsel Melrakkasletta im Nordosten Islands. Dort leben in dem kleinen Ort Raufarhöfn gerade einmal um die 170 Menschen. Einer davon ist Kalmann, ein etwas zurückgebliebener junger Mann Anfang dreißig. Wie einst sein Großvater ist auch Kalmann Jäger und Haifischfänger. Kalmann wird von vielen als Dorftrottel gesehen.
Doch die Ruhe endet schlagartig, als Kalmann bei der Verfolgung einer Polarfuchsspur eine Blutlache entdeckt. Zur gleichen Zeit verschwindet der „Quotenkönig“ und Hotelbesitzer Róbert McKenzie spurlos und im Dorf wimmelt es plötzlich von Suchtrupps, Polizei und Journalisten. Kalmann steht im Mittelpunkt des Geschehens. Während dieser ganzen Zeit trägt er ein Geheimnis mit sich herum.
Kalmann ist der Wahrheit um Robert MacKenzies Verschwinden näher als jeder ahnt.
Barbara Casper
Oberkampf
Hilmar Klute
Neun Monate in einer verstörten Stadt
Jonas Becker hatte in Berlin die Agentur „Kluge Köpfe“, die Gastredner für verschiedene Veranstaltungen vermittelte. Diese Agentur hat sich überlebt, genauso wie seine letzte Beziehung. Becker möchte einen Neuanfang als Autor einer Biografie wagen. Das Objekt der geplanten Biografie ist der in Paris lebende, alternde deutsche Schriftsteller Richard Stein, den Becker seit Jahren bewundert. Ein Jahr möchte Becker, finanziert vom Verleger der geplanten Biografie, in Paris verbringen, sich regelmäßig mit Richard Stein treffen und am Buch arbeiten. Becker bezieht eine Wohnung in der Rue Oberkampf im 11. Arrondissement. Am Morgen nach seiner Ankunft werden die Redaktionsräume von Charlie Hebdo überfallen und Becker findet sich plötzlich in einer zutiefst verstörten Stadt wieder. Durch die Französin Christine bekommt er einen Einblick in die Seele der Franzosen in dieser Situation, während ihn gleichzeitig der egozentrische, bohemienhafte Richard Stein immer mehr beeinflusst.
Sven Puchelt
Offene See
Benjamin Myers
„Es war ein Akt der Befreiung und der Rebellion“
England 1946. Robert Appleyard ist 16 Jahre alt, hat gerade die Schule beendet und möchte nun das Meer sehen. Seine Sehnsucht ist das blaue Meer im Süden des Landes im Gegensatz zum schmutzgrauen Meer in der Nähe seiner Heimatstadt im Nordosten. Roberts Bestimmung nach dem Schulabschluss scheint unausweichlich: Wer in unterprivilegierte Verhältnisse hineingeboren wird, landet in schlechtester Familientradition unter Tage als Bergmann. Für Robert ist das Arbeiten in der dunklen Enge unvorstellbar, denn er liebt die Natur und die Bewegung. So flieht er und zieht vorerst einmal zu Fuß los, arbeitet für Kost und Logis und erlebt ein Land und seine Menschen, in denen der Krieg tiefe Spuren hinterlassen hat. Als Robert die Küste von Yorkshire erreicht, trifft er dort auf Dulcie Piper, die allein mit ihrem Hund in einem Cottage inmitten eines verwilderten Gartens lebt. Robert ist fasziniert von der selbstbewussten, schöngeistigen Exzentrikerin, deren Vorratskammer und Weinregal immer gut gefüllt sind. Dulcie steht für eine völlig andere Welt und bei ihr lernt Robert das gute Essen, den Genuss, die Literatur und die Kunst kennen und schätzen. So bleibt Robert den restlichen Sommer bei Dulcie, ganz entgegen seiner Vorsätze weiterzuziehen. Je mehr er sich um den verwilderten Garten kümmert und das verlassene Atelier darin renoviert, desto mehr nähert er sich dem Grund für Dulcies Melancholie und Einsamkeit an, welche er schon früh wahrnimmt. Robert verbringt diesen einen Sommer am Meer, der sein ganzes weiteres Leben prägen und grundlegend verändern wird. Nach der Lektüre wusste ich erst einmal nicht, welches Buch nun diese Lücke schließen könnte. Sprich, ich war begeistert und traurig, es ausgelesen zu haben.
Birgit Rupp
Robinsons Tochter
Jane Gardam
Ein vollkommen gelungener Roman
Jane Gardams Werk wird erst seit wenigen Jahren nach und nach ins Deutsche übersetzt. Und jedes einzelne Buch ist eine Entdeckung – dieses hat es mir allerdings ganz besonders angetan. Die sechsjährige Halbwaise Polly Flint wird im Jahr 1904 von ihrem seefahrenden Vater bei ihren frommen Tanten abgeliefert. Fortan lebt sie (bald als Vollwaise) mit ihnen in einem großen gelben Haus in der englischen Marschlandschaft. Wir begleiten sie nun durch ihr ganzes Leben. Polly wird zu Hause unterrichtet und hat nur wenig Kontakt zu anderen Kindern und jungen Menschen. Es ist eine Freude zu sehen, wie dieses doch sehr auf sich allein gestellte Wesen mit Hilfe einer guten Portion Eigensinn beginnt, sich im Leben und in der Welt zurechtzufinden und zu behaupten. Polly ist eine genaue, unbestechliche Beobachterin ihrer Umwelt und Mitmenschen, saugt Eindrücke und Begegnungen mit großem Staunen auf wie ein Schwamm. Eine wichtige lebenslange Begleitung, Stütze und Inspiration sind für sie das Buch und die Figur Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Das Gefühl, gestrandet zu sein auf einer Insel, ist ihr sehr vertraut... Ein vielschichtiger, geistreicher und berührender Roman über ein langes, volles Leben. Über weibliche Selbstbestimmung und über die Kraft der Literatur. Wie immer wunderbar übersetzt von Isabel Bogdan. Für mich ein echtes Lieblingsbuch!
Jutta Schleinkofer
Schwarzrock
Brian Moore
Karl May lässt grüßen
Französisch-Kanada im 17. Jahrhundert. Der Jesuit Père Laforgue wird zusammen mit dem blutjungen Daniel in eine abgelegene Missionsstation entsandt, um den dortigen erkrankten Pater abzulösen. Eine Gruppe mit den Franzosen verbündeter Algonkin-Indianer begleitet die beiden Männer den Fluss nach Norden hinauf. Bei einbrechendem Winter wird die Reisetruppe nicht nur von verfeindeten Irokesen angegriffen; Père Laforgue, der Schwarzrock – wie die Jesuiten von den Eingeborenen genannt werden – kämpft auch mit seinen inneren Dämonen, die ihn an seinem christlichen Gott und seiner Mission zweifeln lassen. Ist das, woran die „Wilden“ glauben, wirklich bloßer Aberglaube? Wie bei den lange im Land lebenden französischen Pelzhändlern, die in Aussehen und Gebaren den „Wilden“ ähnlich geworden sind, verschwimmen auch beim Schwarzrock zunehmend die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem. Ein packender Abenteuerroman, der nichts für schwache Nerven ist.
Elisabeth Nagel
Turbulenzen
David Szalay
Ausschnitte aus zwölf Leben
Dieses nur 130 Seiten umfassende Buch des kanadisch-ungarischen Schriftstellers, dessen Roman „Was ein Mann ist“ 2016 auf der Shortlist des Man Booker Prize stand, stößt uns LeserInnen unvermittelt in zwölf völlig unterschiedliche Leben. Eine Frau hat ihren kranken Sohn in London besucht und ist nun auf dem Rückflug nach Madrid. Kurz vor Ankunft erleidet sie einen Schwächeanfall. Punkt. Diese Geschichte ist zu Ende. Ihr Sitznachbar, mit dem sie sich kurz unterhalten und der sich um sie gekümmert hat, ist nun der Protagonist des zweiten Kapitels oder der zweiten Geschichte. Szalay erzählt schnörkellos und gekonnt von den Turbulenzen in zwölf Leben, die sich ganz kurz berühren und doch völlig voneinander getrennt verlaufen. Großartige Literatur, die berührt und herausfordert, denn keine dieser Geschichten ist zu Ende erzählt und so arbeitet es im Kopf der LeserInnen immer weiter...
Sven Puchelt
Tiger
Polly Clark
Gefährliche Umarmung
Die Autorin und Dichterin Polly Clark beschreibt in ihrem in vier Kapitel unterteilten Roman, wie das Schicksal einzelner Menschen sich mit dem der Amurtiger verknüpft. Frieda verliert nach einer Gewalterfahrung zunächst den Boden unter den Füßen und dann ihre geliebte Arbeit bei den Bonobos. Als sie eine Stelle als Wärterin in einem Privatzoo antritt, erliegt sie der ungeheuren Faszination der dort lebenden Tiger. Besonders Luna, der einäugigen neuen Tigerin gehört ihre Liebe. In einem wunderbaren Geflecht aus poetischer und sachlicher Beschreibung nähert sich die Autorin dem Mythos und der atemberaubenden bedingungslosen Schönheit des Panthera tigris altaica. Die Zivilisation ist nur Zentimeter von der todbringenden Wildnis entfernt und jede geglaubte Sicherheit ist trügerisch. Das zweite Kapitel führt den Leser in die Weiten Sibiriens, Lunas Heimat. Tomas, der in einem Reservat für Tiger arbeitet, lebt tief mit und in der Natur mit ihren gnadenlosen Gesetzen. Er ist ein Bewahrer und gehört doch gleichzeitig zu der Spezies, die die größte Bedrohung für diese fragile Welt ist. Polly Clark verbindet die Geschichten ihrer Figuren in verschiedenen Zeitebenen miteinander und der Mittelpunkt und das Bindeglied ist immer der Tiger. Der Roman ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Erhalt einer Welt, von der sich der Mensch immer mehr entfernt, die er aber für sein eigenes Überleben braucht.
Elke Weirauch-Glauben
Wilde Freude
Sorij Chalandon
Mit dem Mut der Verzweiflung
Jeanne, knapp 40 Jahre alt, verheiratet und Buchhändlerin erhält eine Brustkrebsdiagnose. Nach dem ersten Schock beginnt sie klarer zu sehen: ihre sprachlose Ehe, ihre duldsame Persönlichkeit. Zum endgültigen Befreiungsschlag trägt die Bekanntschaft mit Brigitte bei, die sie bei einer ihrer regelmäßigen Chemo-Sitzungen kennenlernt. Brigitte lebt mit zwei weiteren Krebspatientinnen in einer unkonventionellen WG - allesamt vom Leben und unglücklichen Lieben gezeichnet. Jeanne packt ihre Sachen und zieht zu den Frauen. Hier erlebt sie Anteilnahme ohne Mitleid, bedingungslose Solidarität und den nötigen Kampfgeist, um ihr Schicksal zu meistern. Die Mitbewohnerin Melody befindet sich in einer Notlage, die nur mit einem Haufen Geld aus dem Weg zu räumen ist. So planen die vier Gefährtinnen einen Überfall auf einen Juwelier im Pariser Nobelviertel... Die Geschichte ist einfühlsam, aber auch völlig unsentimental erzählt, enthält schnoddrige Dialoge und entwickelt sich ganz nebenbei zu einem Krimi. Und da der Autor eine besondere Vorliebe für unerwartete Wendungen hat, gibt es auch ein überraschendes Finale.
Jutta Schleinkofer
Zeit der Wildschweine
Kai Wieland
Weder wild noch versaut und wahrscheinlich nicht nebensächlich
„Was lese ich denn jetzt?" fragte ich erneut meine Frau. Ich, direkter Nutznießer ihrer Profession. "Lies doch mal das da!", sagte sie und zeigte auf das Buch „Zeit der Wildschweine". Der Name geht gut an, denke ich als bekennender Liebhaber von Wildschweinen. Am Spieß, schön knusprig. Doch um das vorweg zu nehmen: Die Beteiligung von Wildschweinen ist eher hintergründig, und das mindestens in zwei Wortbedeutungen. Die Hauptfigur ist Leon, der seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller von Reisebüchern verdient. Leon hat noch einen Vater, eine Schwester und eine verstorbene Stiefmutter. Bereits zu Beginn trifft Leon einen exzentrischen Fotografen namens Janko. Mit Janko begibt sich Leon auf die Suche nach verlorenen Plätzen in Frankreich. Auf seiner Reise durchlebt er einige merkwürdige Bekanntschaften nebst noch merkwürdigeren Geschichten, die auch nach seiner Rückkehr nicht an Nachgeschmack verlieren möchten. Schlimm genug, dass Leon nun unfähig ist, an einem normalen Sozialleben teilzunehmen, erleidet sein Vater zudem noch einen Schlaganfall. Am Ende brennt ein Maisfeld. Das hört sich verworren an, ist es auch. Nach der ersten Seite hätte ich das Buch am liebsten wieder weggelegt. „Ich nahm damals Unterricht im Kickboxen, weil ich ohnehin wie ein Kämpfer aussah. Nicht wirklich vielleicht, ...". Ui, denke ich, wie ein schlechter Jugendroman und es wird die ersten paar Seiten nicht besser. Aber geben Sie der Sache eine Chance. Es lohnt sich, wie ich meine. Die familiäre Lage wie auch die nicht endende Konfrontation mit Janko, die zu einer unglaublichen Geschichte nach der anderen führt, spannt den Leser chaotisch zielstrebig mit der Frage vor: „Was stimmt denn jetzt?" Ohne es zu bemerken, fängt man doch an, eine Seite nach der anderen zu erlegen. So soll es sein. Erlegt wird die Sau - also das Wildschwein - bis zuletzt nicht, soviel kann ich sagen.
Danny Mock