Buchtipps Herbst/Winter 2019
Buchtipps Herbst/Winter 2019
Darktown
Thomas Mullen
Krimi über Atlantas erste schwarze Polizisten
Im Atlanta des Jahres 1948 werden die ersten farbigen Cops, acht an der Zahl, im Polizeidienst eingesetzt. Ihre Befugnisse sind beschränkt; so dürfen sie nur zu Fuß und nur im schwarzen Stadtviertel patrouillieren. Wenn sie jemanden verhaften möchten, müssen sie weiße Kollegen dazuholen, die ihnen das Leben sowieso schon schwer genug machen. Als der Mord an einem jungen farbigen Mädchen vertuscht werden soll, wollen das Lucius Boggs und Tom Smith aus der neuen Einheit aber nicht einfach schlucken. Unerlaubt machen sie sich daran, das Verbrechen aufzuklären, und übertreten dabei alle Grenzen, die ihnen wegen ihrer Hautfarbe gesetzt sind. Rassismus in seinen vielen Spielarten ist das Thema dieses spannenden Krimis, den Mullen actionreich erzählt.
Elisabeth Nagel
Kastanienjahre
Anja Baumheier
Die Geschichte eines Dorfes, seiner Bewohner und eines Kastanienbaums
Elise lebt seit 20 Jahren in Paris und betreibt dort eine kleine Boutique. Aufgewachsen ist sie in den 60er Jahren in dem kleinen Dorf Peleroich an der mecklenburgischen Ostseeküste. Das Wahrzeichen des Dorfes war die Thomas-Mann-Kastanie auf dem Dorfplatz. Der Baum wurde jedoch durch einen Blitzeinschlag zerstört und auch um das Dorf steht es nicht gut – es soll dem Erdboden gleichgemacht werden. Als Elise einen anonymen Brief aus Deutschland bekommt, beschließt sie in ihr Heimatdorf zu reisen. Der Verfasser behauptet, etwas über den Tod ihres Vaters zu wissen. Am gleichen Tag ist damals ihr bester Freund Jakob verschwunden. Gibt es einen Zusammenhang? Anja Baumheier nimmt uns mit auf eine spannende Zeitreise zwischen Gründung der DDR, Mauerbau und Nach-Wendezeit – passend zum 30. Jahrestag des Mauerfalls.
Jeannine Beihofer
Der Klavierschüler
Lea Singer
Briefe einer verbotenen Liebe
Zürichsee im Vorfrühling 1986. Ein erfolgreiches Leben soll gewaltsam beendet werden. Begründung: Ausweglosigkeit. Da sabotieren ein paar Minuten Musik die Vollstreckung. Es beginnt eine Flucht ins Leben hinein. 1937 hatte Vladimir Horowitz in der Schweiz eine Affäre begonnen, mit der er seine ganze Karriere und seine Ehe mit Toscaninis Tochter aufs Spiel setzte. Vor sieben Jahren stieß Lea Singer auf brisante unveröffentlichte Briefe von Vladimir Horowitz an einen jungen Schweizer namens Nico Kaufmann. Der begabte Sohn aus gutbürgerlichem Haus wurde 1937 sein erster Klavierschüler und sein Geliebter. Als Jude verfolgt, war Horowitz Ende der dreißiger Jahre zum Aufbruch ins Exil gezwungen. Ein Trauma, aber auch die Chance, sein Leben zu ändern, sich endlich zu sich selbst zu bekennen. Fünfzig Jahre später erzählt Nico Kaufmann, zu einem Barpianisten herabgesunken, einem Unbekannten von dieser Liebe und ihren nächtlichen Seiten. Er führt den Fremden zu den Luxushotels, in denen Horowitz mit ihm zwei Jahre lang seine Leidenschaft im Verborgenen lebte, und immer näher heran an die brennenden Fragen: Wie viel Mut fordert die Liebe? Und was geschieht mit dem, der seine Sehnsucht verleugnet? Die biographischen Romane von Lea Singer sind immer lesenswert und wirken wie aus einem Guss. Ihr gelingt es auch mit diesem Werk, auf eine besondere Art und Weise, Fiktionalität mit einem fundierten biographischen Wissen zu einem spannenden Unterhaltungsroman zu amalgamieren.
Rainer Brandl
Reisen mit leichtem Gepäck - Erzählungen
Tove Jansson
Die Reise zu uns selbst
Vielen Lesern wird Tove Jansson als Autorin der berühmten Mumin-Bücher bekannt sein. Nun wurden auch ihre Romane und Erzählungen für Erwachsene nach und nach neu ins Deutsche übersetzt. Der Erzählband „Reisen mit leichtem Gepäck“ ist im Original 1987 erschienen und wurde bei Urachhaus herausgegeben. Schon in ihren Kinderbüchern hat die Dichterin mit einem besonderen, scharfen Blick für das allzu Menschliche meisterhaft beobachtete Charakterzeichnungen beschrieben. In dem hier besprochenen Erzählband lässt die finnische Autorin ihre Protagonisten auf die Reise gehen, mit Sehnsucht im Herzen nach dem Fremden, aber auch nach dem Zurückgelassenen. In den teilweise melancholischen 12 Miniaturen erzählt uns Tove Jansson von der besonderen Magie des Lebens, die ihren Figuren trotz aller Widrigkeiten ein, um beim Bild des Reisens zu bleiben, wichtiger Kompass und Anker ist. Manchmal, so scheint es, muss man erst weggehen, den Blick in die Ferne richten, um bei sich selbst anzukommen. Ein Buch für alle, die gerne verreisen, oder aber für jene, die gerne daheimbleiben.
Elke Weirauch-Glauben
Der Wal und das Ende der Welt
John Ironmonger
Eine liebenswerte Utopie gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück
In dem kleinen Dorf St. Piran im beschaulichen Cornwall strandet ein nackter Mann und fast gleichzeitig in Wal. Der Mann heißt Joe Haak, ist Mathematiker und Analyst einer Londoner Bank und hat einen Algorithmus entwickelt, der Modelle von den Abhängigkeiten der Welt erstellt. Als das System statt einfacher Kursbewegungen aufgrund einer weltweiten Grippewelle den globalen Kollaps prognostiziert, fühlt er sich schuldig, denkt an Selbstmord – und landet in einem liebenswerten mikrokosmischen Paradies. Die 307 schrulligen Einwohner von St. Piran adoptieren ihn buchstäblich und tun alles, damit es ihm wieder gut geht. Als der Wal strandet – man denke an Jona – ist es Joe, der ihn rettet und den Dörflern sagt, was zu tun ist. Und er versucht auch das Dorf zu retten, indem er sein ganzes Geld in 3800 Pakete mit haltbaren Lebensmitteln steckt und sie im Kirchturm hortet. Die Dörfler staunen und wundern sich. „Jedes Wirtschaftsmodell basiert auf der Annahme, dass menschliche Wesen sich selbstsüchtig verhalten werden“, hatte Joes Chef ihm erklärt, und Egoismus sei bloß eine andere Umschreibung für den Überlebensinstinkt. Diese Aussagen führen die Menschen in St. Piran zur Überraschung von Joe ad absurdum. Wie das genau geht, erzählt Ironmonger auf eine sehr angenehme Art, die es ihm auch möglich macht, das Ganze völlig ohne Kitsch zu einem Happy End zu führen, in dem auch der Wal nochmal eine tragende Rolle spielt. Das Buch macht nachdenklich mit Blick auf unsere Zukunft und auch ein bisschen neidisch auf diese kleine, heile Welt in St. Piran.
Andrea Schubert
Blackbird
Matthias Brandt
Wie erträgt man das Unerträgliche, das gemeinerweise zum Leben dazugehört?
Wir sind in den 1970er Jahren in einer namenlosen deutschen Kleinstadt, einem Kaff. Hier lebt Morten, genannt "Motte", dessen Eltern sich gerade trennen und der Mitte August vom Vater seines besten Freundes "Bogi" erfährt, dass dieser schwer an Krebs erkrankt ist. Wenige Tage später wird Motte 16 Jahre alt, und statt sich wie geplant mit Bogi zum ersten Mal mit Amselfelder zu betrinken, fühlt sich sein Leben nun an, "als ob ein riesiges 'Aber' vom Himmel gefallen wäre".
Elf Monate begleiten wir Motte mit seinen Gefühlen, die nicht zu den Situationen passen, teilen seine Verwirrung, die Hoffnung, erleben seine Flucht vor der Realität durch seine schnoddrige "Schnauze" und können uns auf derselben Buchseite sowohl schlapplachen als auch zu Tränen gerührt sein.
Matthias Brandt trifft klar, bestechend und bewegend den richtigen Ton, ein wunderbares Buch und ein das Herz anrührender Ich-Erzähler.
Birgit Rupp
Bell und Harry
Jane Gardam
Dieses kleine Buch macht gute Laune!
Die Autorin Jane Gardam versteht es, mit wenigen Sätzen eine Stimmung, Personen oder eine ganze Dorfgemeinschaft zu zeichnen. So auch in diesem kleinen, bereits 1981 erstmals auf Englisch erschienenen Episodenroman. Im Mittelpunkt stehen zwei Jungen: Harry, der Sohn stadtflüchtiger Londoner, und Bell, der Sohn ihrer Ferienhausbesitzer im ländlichen Yorkshire. Zu Anfang prallen Welten aufeinander und die Schrulligkeiten sowohl der Stadt- als auch der Landmenschen prägen so manches Kapitel. Die beiden Jungen und ihre Familien überstehen eine Reihe von kleinen und größeren Abenteuern, und allerlei „schräge“ Personen kreuzen ihren und den Weg des Lesers. Dabei gehen die beiden Kinder und ihre Familien im Lauf der Jahre eine enge Bindung ein. Ein echtes Wohlfühlbuch ohne die geringste Spur von Kitsch. Isabel Bogdan hat den typischen Gardam-Sound wie immer genial übersetzt.
Jutta Schleinkofer
Die Nickel Boys
Colson Whitehead
Eine „Besserungsanstalt" für Jugendliche, in Wahrheit ein Ort des Schreckens und des Todes
Florida, Anfang der sechziger Jahre. Der sechzehnjährige Elwood lebt mit seiner Großmutter im schwarzen Ghetto von Tallahassee und ist ein Bewunderer Martin Luther Kings. Als er einen Platz am College bekommt, scheint sein Traum von gesellschaftlicher Veränderung in Erfüllung zu gehen. Doch durch einen Zufall gerät er in ein gestohlenes Auto und wird ohne gerechtes Verfahren in die Besserungs-anstalt Nickel Academy gesperrt. Diese sogenannte Besserungsanstalt entpuppt sich schnell als grausame Folteranstalt, die den Insassen lebenslange Spuren und Narben in Körper und Seele schlägt. Vor allem farbige Jugendliche sind in einer von der Außenwelt abgeschotteten Lebenswelt einem korrupten, sadistischen und vor allem rassistischen Personal schutzlos ausgeliefert. Rassistische Kränkungen und Demütigungen sind für die Jugendlichen allgegenwärtig, und wer nicht pariert, wird gefügig gemacht oder verschwindet vermeintlich spurlos. Hätte Whitehead nicht eine konterkarierende poetische und ironische Sprache gefunden, wären die Schilderungen aus dem „Nickel“ für einen normalen Menschen und Leser kaum zu ertragen. So ist ihm, basierend auf einer wahren Begebenheit, ein furchtbar guter Roman gelungen.
Rainer Brandl
Der Gesang der Flusskrebse
Delia Owens
Kya, das Marschland und die Einsamkeit
North Carolina in den 50er und 60er Jahren. Kya wächst unter besonders widrigen Umständen im Marschland auf. Die Mutter verlässt die Familie, als das Mädchen noch klein ist; nach und nach suchen auch ihre Geschwister vor dem alkoholabhängigen Vater das Weite. Als auch er eines Tages nicht mehr nach Hause kommt, bleibt Kya allein zurück. Nur Tate, ein etwas älterer Freund ihres Bruders, und Jumpin‘, ein schwarzer Ladenbesitzer, helfen ihr zurechtzukommen. Von den übrigen Bewohnern des nahegelegenen Ortes wird das „Marschmädchen“, wie sie genannt wird, misstrauisch beäugt. Die Natur wird zu ihrer Gefährtin, die sie durch ihre Jugend und Einsamkeit begleitet. Als ein junger Mann aus dem Ort ermordet aufgefunden wird, gerät sofort die inzwischen erwachsene Kya als Außenseiterin unter Verdacht und wird vor Gericht gestellt. Dies ist ganz klar mein Lieblingsbuch in diesem Jahr; es hat mich an „Wer die Nachtigall stört“ erinnert, nicht nur wegen der Szenen vor Gericht. Bis zur letzten Seite bleibt es spannend, eine Liebesgeschichte gibt es auch, sogar eine Art Happy End. Ungewöhnlich schön beschreibt die Autorin den Part der Natur, die eigentlich eine zweite Hauptperson ist.
Elisabeth Nagel
Die Abenteuer des Alexander von Humboldt
Andrea Wulf
Graphic-Novel über Humboldts Südamerika-Expedition
Zum Humboldt-Jubiläumsjahr 2019 neu erschienen bei Bertelsmann ist diese Graphic-Novel. Der Text ist von der Historikerin Andrea Wulf, die farbenfrohen Bilder sind von der Illustratorin Lillian Melcher. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen (die erst seit Kurzem zugänglich sind), Landkarten und Skizzen wird die Südamerika-Expedition aus der Sicht von Alexander von Humboldt erzählt. Ein wunderschönes Buch zum Selberlesen und Anschauen und zum Verschenken - für alle Humboldt-Interessierten.
Margret Thorwart
Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
Andrea Wulf
Von der Wichtigkeit der Vorstellungskraft in der Wissenschaft
Vorneweg: das Buch ist bereits letztes Jahr als TB erschienen. Geboren wurde Humboldt 1769, also genau vor 250 Jahren und vielleicht für die eine oder den anderen Anlass, mehr über das Universalgenie Humboldt erfahren zu wollen. So ging es zumindest mir und ich habe in dieser gelungenen Biografie auf unterhaltsame Weise viel über den Menschen und Wissenschaftler Humboldt gelernt. Nebenbei erfährt der Leser viel über die geistige Elite des 19. Jahrhunderts, mit der Humboldt einen regen persönlichen oder schriftlichen Austausch pflegte. Nach dem frühen Tod des geliebten Vaters war seine Kindheit nicht wirklich glücklich. Mütterliche Liebe war ihm nicht vergönnt. Aber dem Ehrgeiz der Mutter, ihre Söhne in den Staatsdienst zu bringen, haben es die Humboldt-Brüder zu verdanken, dass ihre (Aus-)Bildung hervorragend war. Nach dem frühen Tod der Mutter war es Alexander von Humboldt endlich möglich, mit Hilfe seiner nicht unbedeutenden Erbschaft das Leben zu führen, das er sich wünschte: Forschen, Experimentieren (auch am eigenen Körper) und Reisen. Seine Vorstellungskraft und spätere Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt, wurde vor allem durch seine Südamerika-Reise bestätigt. Er hat die Natur nicht erfunden, aber anstatt wie damals üblich mechanisch zu klassifizieren und in Gattungen und Systeme einzuteilen, hat er sie in ihrer Gesamtheit und Lebendigkeit erfasst. Ein spannend zu lesendes Buch über einen Abenteurer und Weltbürger, der schon vor 250 Jahren vor Klimawandel und Umweltzerstörung warnte. Bestens geeignet für lange Herbst- und Winterleseabende.
Margret Thorwart
Schäfchen im Trockenen
Anke Stelling
Eine schonungslose Milieustudie
Resi hätte wissen können, dass ein Untermietverhältnis unter Freunden nicht die sicherste Wohnform darstellt, denn: Was ist Freundschaft? Die hört bekanntlich beim Geld auf und ist im Fall von Resis alter Clique mit den Jahren so brüchig geworden, dass Frank Lust bekommen hat auszusortieren, alte Mietverträge inklusive. Spätestens mit der Familiengründung beginnt ein Teil der Clique in Richtung Eigenheim und Abschottung zu denken. Als Aufsteigerkind, muss Resi zusehen, wie sie da mithält. Darüber ist sie reichlich wütend. Und entschlossen, ihre Kinder aufzuklären, ob sie’s wollen oder nicht. Sie erzählt von sich, von früher, von der Verheißung eines alternativen Lebens und der Ankunft im Alltag als Ehefrau und Mutter. Anke Stelling sagt sich, „Jeder ist seines Glückes Schmied“, und hält der Mittelschicht in deutschen Großstädten mit ihren Hybridautos und samtbezogenen Kindersitzen den Spiegel vor. Das Buch regt zum Nachdenken an. Anke Stelling hat für „Schäfchen im Trockenen“ den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 erhalten.
Barbara Casper
Die Rebellion
Joseph Roth
Kraftvolle Prosa eines pessimistischen Chronisten über die Folgen des 1. Weltkriegs
Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth (1894-1939) erzählt in dem Roman »Die Rebellion«, einem frühen Werk von 1924, die Geschichte des Kriegsinvaliden Andreas Pum. Pum ist ein bescheidener und gottesfürchtiger Leierkastenspieler, der die Obrigkeit achtet und loyal alle Gesetze des Staates befolgt. Bei der Witwe Blumich scheint er sein kleines privates Glück zu
finden. Doch dann gerät der naive Pum durch eine Reihe von Zufällen, aber auch durch eigene und fremde Schuld, in das unbarmherzige Räderwerk der bürgerlichen Gesellschaft. In einer großen Schlussrede vor einem imaginären Gericht wendet er sich ernüchtert von seinem Gott ab und schmäht ihn. Seine Rede ist zugleich eine umfassende Anklage der sozialen Zustände seiner Zeit. Grundlage des vor 100 Jahren entstandenen Romans ist erstmalig das handschriftliche Manuskript von Joseph Roth, das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hinterlegt ist. Ergänzt wird der Roman durch diverse Artikel, die Roth zu ähnlichen Themen veröffentlicht hat. Ein wunderbares Buch, welches nicht an Aktualität verloren hat und die Versprechen von Vaterland, Krieg und Ehre dekonstruiert.
Rainer Brandl
Am Tag davor
Sorj Chalandon
Erschütterndes Drama um Schuld und Gerechtigkeit
Dieses Buch kommt auf den ersten Blick sehr düster daher und man würde vielleicht zögern zuzugreifen. Auch zählt der französische Autor nicht zu den allerbekanntesten auf dem deutschen Buchmarkt. Mich hat die einstimmige Empfehlung aller vier Teilnehmer im „Literarischen Quartett“ im ZDF dazu angeregt, mich auf dieses Buch einzulassen. Der Roman spielt vor dem Hintergrund eines Grubenunglücks in Nordfrankreich im Jahre 1974 bei dem damals
42 Bergleute ums Leben gekommen sind.
Der 16-jährige Michel lebt mit seinen Eltern in einfachen bäuerlichen Verhältnissen und liebt seinen großen Bruder Joseph über alles. Jospeh arbeitet entgegen des väterlichen Rates als Bergmann und ist das große Vorbild seines jüngeren Bruders. In der Nacht des schrecklichen Unglücks wird er schwer verletzt und stirbt später im Krankenhaus. Michel versetzt dieser Verlust einen lebenslangen Schlag und er sinnt als Erwachsener nach Rache an dem Mann, den er für die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen in der Grube verantwortlich macht…
Der Roman besitzt eine große sprachliche Kraft und hat mich bereits nach wenigen Sätzen gefangen genommen. Er setzt sich auf wirklich einzigartige Weise mit den Themen Schuld, Rache und Gerechtigkeit auseinander und war für mich in diesem Lesejahr ein Highlight.
Jutta Schleinkofer
Desperado
Ole Könnecke
Ein Kindergarten-Western
Wie jeden Morgen reitet Roy auf seinem Pferd Desperado in den Kindergarten. Wie jeden Morgen freut er sich auf die anderen Kinder und vor allem auf die Erzieherin Heidi. Aber diese wurde von dem berüchtigten Banditen Black Bart entführt, der Heidi zur Frau nehmen möchte. Gemeinsam mit Desperado macht sich Roy auf, um Heidi zu retten. Ole Könneckes lakonischer Erzählton und die wunderbar reduzierten und trotzdem ausdrucksstarken Illustrationen machen dieses Buch zu einem Liebling des Jahres!
Sven Puchelt
Wolkenbrot
Baek Hee Na & Kim Hyang Soo
Manchmal muss man einfach schweben
Wie schön, dass „Wolkenbrot“ in diesem Jahr wieder neu aufgelegt wurde. Schon das Cover lässt erahnen, dass man hier ein ganz besonderes Bilderbuch in Händen hält. Wie die kleinen Katzenkinder im Bilderbuch wissen, „dass heute etwas ganz Besonderes passieren würde“, so ergeht es auch dem Betrachter, ob jung oder alt, wenn er die „Theaterbühne“ von „Wolkenbrot“ betritt. Baek Hee Na hat mit seinen Collagen, die Kim Hyang Soo fotographisch so vortrefflich ins „rechte Licht rückte“, eine ganz besonders zauberhafte Ode an die Macht der Phantasie verfasst. An einem verregneten Tag finden die kleinen Katzenkinder eine kleine Wolke, die sich in den Ästen verfangen hat. Sie nehmen sie mit nach Hause und die Mutter backt herrlich luftige Wolkenbrötchen daraus. Wie die schmecken! Plötzlich können die kleinen Katzen schweben, und ein großes Abenteuer beginnt. Nun ist der Tag nicht mehr so trostlos und auch der ach so gestresste Papa kommt dank seiner Kinder nicht zu spät zur Arbeit. Mit sparsam klarem Text und poetischer Bildersprache wird die trübe Herbststimmung einfach weggepustet.
Elke Weirauch-Glauben
Ausflug zum Mond
John Hare
Wenn einer in eine Welt kommt und sie komplett verändert
Die Geschichte von John Hare beginnt bereits auf dem Cover. Eine Schulklasse besteigt ein Raumschiff und fliegt zum Mond. Ein Kind bleibt stets etwas zurück, den Zeichenblock und den Stift unter den Arm geklemmt. Es schläft irgendwann ein und wird zurückgelassen und erlebt dadurch ein ganz besonderes Abenteuer.
Dieses wunderbare Bilderbuch kommt ganz ohne Worte aus und erzählt in eindrucksvollen Bildern seine Geschichte. Besonders faszinierend ist, dass es Hare gelingt Emotionen darzustellen, ohne dass Gesichter zu sehen sind. Wundervoll!
Birgit Rupp
Wie nennt man ein Kaninchen im Fitnessstudio?
Moni Port & Philip Waechter
Neuer Lesespaß für alle Um-die-Ecke-Denker
„Wie nennt man einen gefrorenen Hausflur?“ „Wie nennt man ein weißes Mammut?“ Diese und einige weitere Rätselwitze finden sich in dem neuen Buch von Moni Port, das im Frühjahr im Klett Kinderbuch Verlag erschienen ist. Philip Waechter hat die Rätsel mit lustigen, originellen Quatschbildern illustriert. Ein herrlich unsinniges Buch für kleine und große Leser!
Ulla Leber
Ziemlich beste Schwestern
Sarah Welk
Ein Genuss für Groß und Klein
Erzählt werden die Geschichten über Mimi und Flo, von denen es inzwischen 5 Bände gibt, aus der Perspektive der Erstklässlerin Mimi. Ob die beiden ihre Kaninchen mit in den Urlaub schmuggeln, am Strand tolle Schätze finden, die leider bald anfangen zu stinken, ob sie zur Vorbereitung auf das neue Geschwisterchen ihre Kaninchen wickeln, Schneemänner im Gefrierfach lagern oder herausfinden wollen, welche Geräusche eine Giraffe macht – die beiden erleben jede Menge spannende und sehr lustige Abenteuer. Die Heldinnen sind einfallsreich und kommen wunderbar unbekümmert herüber. Hoffentlich können sich viele Kinder mit den beiden Mädchen identifizieren! Durch die große Schrift und die witzigen bunten Illustrationen, die den Text auflockern, können sich etwas geübte kleine Leser/innen der zweiten Klasse die Bände schon vornehmen. Dann dürfen die Eltern ihren Spaß haben und sich die Geschichten vorlesen lassen.
Sabine Schmidt-Bischoff
Ariadnes Faden - Götter, Sagen, Labyrinthe
Jan Bajtlik
Auf verschlungenen Pfaden durch die griechische Antike
In diesem opulenten Bilderbuch reisen wir durch die griechische Antike auf ganz unterschiedlichen Wegen, aber immer durch Labyrinthe. Auf der Suche nach dem Ausweg begegnet man allen bekannten Figuren und Sagen der griechischen Mythologie. Die Illustrationen sind so detailreich, dass man bei wiederholtem Betrachten der Bilder immer wieder Neues entdecken kann. Im Anhang findet man zudem einen Stammbaum der Götter und Heroen sowie weitere Erklärungen zu den vorangegangenen Illustrationen. Ein großer Spaß für kleine und große Entdecker.
Patricia Mock
An Nachteule von Strenhai
Holly Goldberg Sloan & Meg Wolitzer
Eine charmante Freundschaftsgeschichte
„Du kennst mich nicht, aber ich schreib dir trotzdem.“ So beginnt die erste Mail, die die zwölfjährige Bett aus Kalifornien an die gleichaltrige Avery in New York schickt. Betts alleinerziehender Vater hat Averys ebenfalls alleinerziehenden Vater auf einer Messe kennengelernt. Die beiden haben sich ineinander verliebt und planen, die Mädchen in ein und dasselbe Ferienlager zu schicken, damit sie sich kennenlernen und miteinander anfreunden. Doch die Mädchen wollen diesen Plan durchkreuzen. Was sich aus dieser Konstellation entwickelt, ist so unterhaltsam, mitreißend, überraschend und herzerwärmend zu lesen, dass hier gar nicht mehr verraten werden soll. Dieses Buch macht einfach gute Laune.
Sven Puchelt
Wo die Freiheit wächst
Frank Maria Reifenberg
Vom Widerstand im Kleinen
Jugendliche, die sich nicht dem militärischen Drill der Hitlerjugend unterwerfen wollten, gab es in ganz Deutschland. Sie schlossen sich oft zu lockeren Gruppen zusammen, nannten sich Navajos, Swings, Meuten oder Edelweißpiraten und verbrachten ihre Freizeit meist mit dem Singen von teils verbotenen Wanderliedern und kurzen „Fahrten“ in die Umgebung ihrer Städte. Manche dieser Gruppen organisierten auch Flugblattaktionen oder schrieben Parolen gegen das Regime an Hauswände. In fiktiven Briefen erzählt Frank Maria Reifenberg die Geschichte der 16-jährigen Lene im Köln des Jahres 1942. Die Bevölkerung leidet unter den Luftangriffen der Engländer, Lenes beste Freundin Rosi ist vor dem Krieg aufs Land geflüchtet und ihr geliebter großer Bruder Franz ist an der Ostfront. Den Rest der Familie versucht Rosi in Köln so gut es geht zusammenzuhalten. In dieser Zeit lernt sie Erich kennen und es entwickelt sich eine zarte Liebe. Erich gehört zu eine Kölner Edelweißpiratengruppe, der sich nun auch Lene anschließt. Durch die Form des Briefromans kommen die Protagonisten der Leserin und dem Leser unglaublich nahe. Reifenberg schafft es großartig, die Briefsprache der Zeit aufzunehmen, ohne dass dies gekünstelt wirkt. Auch die vierjährige, akribische Recherchearbeit merkt man dem Buch an. Absolute Empfehlung für Jugendliche wie Erwachsene.
Sven Puchelt
Hope - Es gibt kein zurück. Du kommst an. Oder du stirbst.
Peer Martin
Fesselnder Abenteuerroman ohne Fake News
Peer Martin nimmt uns für seinen fesselnden Abenteuerroman mit auf die Panamericana Flüchtlingsroute. Mathis, ein angehender Journalismusstudent aus Kanada, hat sich in den Kopf gesetzt, eine einzigartige Fotoreportage über die berühmt-berüchtigte Flüchtlingsroute von Afrika durch Südamerika in die USA zu schreiben. Dazu reist er mit seiner Freundin nach Kapstadt, auf der Suche nach einem angehenden Flüchtling, welcher genau diese Route als Ziel hat. Und so trifft er Hope, ein 11-jähriges Kind aus Somalia. Was ihm in seiner Heimat Somalia widerfahren ist und wer dem Kind an den Fersen hängt, erfahren wir im Buch Stück für Stück. Sowie auch die Schicksale anderer Flüchtlinge, die einem als Leser sehr nahe gehen. Man wird im Lauf der Geschichte auch oft mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert, die sehr nachdenklich machen. Zudem erfahren wir nach jedem Kapitel Hintergrundinformationen zu den Themen, um die es im Lauf der Geschichte geht. Ich habe diese Informationen mit großem Interesse gelesen, da mir vieles nicht bekannt war und sie der Erzählung noch mehr Tiefgang geben. Bei diesem Roman kam ich kaum zum Durchatmen. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, dass manche Beschreibungen sehr schwer auszuhalten sind. Bei einer Verfilmung würde man wahrscheinlich sehr oft dazu neigen, die Hände vors Gesicht zu halten. Deshalb empfehle ich dieses beeindruckende Buch auch frühestens ab 16 Jahren.
Patricia Mock